© NZZ vom 11.7.1992

Ein Tessiner Bergtal hilft sich selbst

Valle di Muggio ist das südlichste Tal der Schweiz und die kleinste Einheit der als Bergregionen eingestuften Gebiete des Tessins. Diese beiden Attribute sind aber nicht das einzige, was diesen 3700 Hektaren grossen, rund zehn Kilometer langen und auf Siedlungshöhe gut zwei Kilometer breiten Mikrokosmos mit seinen 340 Einwohnern besonders auszeichnet. bemerkenswert ist neben der ausserordentlichen Schönheit der Landschaft vor allem auch seine jüngste Entwicklungsgeschichte. Sie ist ein Beispiel dafür, wie eine abgelegene Bergregion auch unter wirtschaftlich wenig günstigen Voraussetzungen, dank einem behutsamen und durchdachten Förderungskonzept, „überleben“ kann, ohne dabei ihre natürliche und kulturhistorische Substanz zu verlieren. Dass dabei zudem Selbsthilfe grossgeschrieben wird, macht das Muggiotal erst recht zu einem Sonderfall.

Wälder, Alpen und ein Schlucht

Auf den ersten Blick sind es allerdings die eigenwillige Landschaft mit den typischen Dörfern und die üppige Vegetation, die einem Besucher des von Norden nach Süden entlang des untersten teils der Ostgrenze zu Italien verlaufende Sacktals als etwas Besonders auffallen. Eben erst über eine kurvenreiche, zuerst steil, dann nur noch wenig ansteigende Strasse dem lärmigen Süden des Mendrisiotto entkommen, erfährt man die Urtümlichkeit dieses zu grossen Teilen aus Wäldern und Alpen bestehenden, durch ein mächtige Schlucht zweigeteilten Bergtals fast schon als unwirklich. Es erstaunt einen denn auch nicht, wenn man erfährt, dass die gesamte Talschaft bereits vor Jahren zusammen mit dem angrenzenden Generoso-Gebiet in das Inventar der zu erhaltenden Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgenommen worden ist.

Die eigenwillige Topographie des Muggiotales lässt sich grob in drei Vegetationszonen einteilen. Der enge, vom Breggia-Fluss tief ausgespülte Talgrund ist bedeckt mit einem dichtem, kaum zugänglichen Urwald aus mächtigen Erlen, Eschen, Pappeln und wirrem Gebüsch. Rund 100 Höhenmeter über dieser wildromantischen, steil abfallenden Schlucht öffnet sich das Tal dann terrassenförmig. Hier beginnt auch das landwirtschaftlich genutzte und besiedelte Gebiet. Das Kulturland um die Siedlungen und bei den einzelnen verstreuten Weilern haben die Bauern grösstenteils durch Rodungen und enge, künstliche Terrassierungen dem stotzigen Gelände abgezwungen. Darüber verliert sich der anschliessende Buchenwald allmählich in die sanft geschwungenen Bergkämme der südlichsten Ausläufer der Schweizer Alpen. Wie der umfangreichen naturkundlichen Fachliteratur zu entnehmen ist, können in allen Zonen der Tals botanische, zoologische und geologische Raritäten und Besonderheiten beobachtet werden. Neben dem günstgen Südklima und dem natürlichen Schutz durch die Abgeschiedenheit und die Unwegsamkeit des Gebiets gehen die Gründe hierfür bis in die Urzeiten erdgeschichtlicher Entwicklung zurück.

Dreigeteilte Region

An den durch die Breggia-Schlucht getrennten Flanken kleben die engen, von der Neuzeit noch kaum berührten Dörfer des hinteren Teils des Tals förmlich an den Hängen. Auf der linken Talseite sind es vier Gemeinden, Caneggio, Bruzella, Cabbio und Muggio, auf der rechten Monte und Casima. Insgesamt wohnen in den sechs Ortschaften gut 1200 Personen….Die „Bassa Valle“ bilden dagegen die bereits in die Ebene des Mendrisiotto blickenden Ortschaften Castel San Pte., Morbio Sperriger und Sago. Diese Dörfer unterscheiden sich von den übrigen Gemeinden im Tal nicht nur durch die geografische Ausrichtung. Es sind auch die einzigen Orte, die nicht den kantonalen Finanzausgleich beanspruchen müssen und die in den letzten Jahren keine Bevölkerungsschwund hatten. Im Gegenteil: Die Gemeinden verzeichneten hohe Zuwachsraten, und im terrassierten Gelände um die Ortskerne schossen moderne Ein- und Zweifamilienhäuser wie Pilze aus dem Boden.

Die unterschiedlichen Geländestrukturen haben auch dazu geführt, dass sich die Region Muggio trotz ihrer Kleinräumigkeit geografisch in drei natürliche Einheiten unterteilen lässt: Das Leben ( Arbeitsplätze, Ausbildung usw.) der Bewohner der kargeren, rechten Talhälfte ist dabei eher auf Mendrisio ausgerichtet, jenes der linken, sanfteren eher auf den Raum Morbio – Chiasso. Die Dorfkerne der auf den Ausläufern der beiden Talflanken liegenden drei Gemeinden befinden sich dagegen bereits ausserhalb der eigentlichen Talschaft, obwohl ihre Grenzen ebenfalls weit ins Berggebiet hineinreichen. Wie bereits angedeutet, hat sie ihre Lage im unmittelbaren Einzugsgebiet der Zentren des Mendrisiotto zu einem bevorzugten Wohngebiet werden lassen und ihnen damit eine gewisse Prosperität gebracht, aber auch den ehemals ruralen Charakter der Dörfer und der Landschaft stärker verändert.

Grosse Bevölkerungsverluste bis 1980

Die Abgeschiedenheit des oberen Teils des Muggiotals, die heute aus den unterschiedlichsten Gesichtspunkten der Entwicklungsmöglichkeit immer mehr auch als Vorteil wahrgenommen wird, war während Jahrzehnten eine grosse Hypothek für die Region. Abwanderung, Überalterung und Verarmung kennzeichneten denn auch bis ende der 70er Jahre die Entwicklung der Tals. In einzelnen Gemeinden reduzierte sich die Bevölkerung zwischen 1950 und 1980 erneut fast um die Hälfte, nachdem bereits in den Jahrzehnten zuvor ein grosser Aderlass hatte verkraftet werden müssen. Angesichts der allmählichen Entvölkerung einzelner Gebiete schlossen sich die neun Gemeinden der Region deshalb zu diesem Zeitpunkt zu einer Interessengemeinschaft zusammen, um so mit vereinten Kräften und Ressourcen die Zukunft des Tals zu sichern.

Die 1979 gegründete Körperschaft „Regione Valle di Muggio“ (RVM) legte dann 1983 ein breit ausgerichtetes Entwicklungsprogramm vor, welches neben den Zielvorstellungen auch eine umfassende Bestandesaufnahme des Ist-Zustandes enthielt. An der Bereitstellung der Unterlagen hierzu hatten Planungsfachleute verschiedenster Institutionen mitgearbeitet, von der EHT über das Tessiner Volkswirtschaftsdepartement bis zum kantonalen Amt für Wirtschaftsförderung. Das stark auf den Kooperationswillen der Bevölkerung und damit auf Selbsthilfe abgestützte Entwicklungskonzept bildete auch die Grundlage für die Anerkennung des Gebietes als Bergregion. Da die mit dem eidgenössischen Investitionshilfegesetz für Berggebiete verbundenen Auflagen nicht erfüllt waren, geschah dies nach kantonalem Recht. Das Muggiotal war damit das erste Gebiet in der Schweiz, dem diese Einstufung nach kantonalem Recht zugesprochen wurde und das als relativ kleine Entwicklungseinheit damit in den Genuss von entsprechenden Förderungsgeldern kam. Das damit finanziell auf eine tragfähige Basis abgestützte Förderungsprogramm umfasste „Überlebensmassnahmen“ sowohl in wirtschaftlicher als auch in soziokultureller Sicht.

Beachtliche Erfolge

Zieht man heute, gut ein Jahrzehnt nach der Präsentation des Konzepts, Bilanz, so fällt diese positiv aus. Dies vor allem auch deshalb, weil in den damaligen Entwicklungsrichtlinien nahezu alle Aspekte des Lebens im Tal berücksichtigt worden waren. Dies gab den unterschiedlichsten Interessenten die Möglichkeit, ihre Aktivitäten in das Gesamtkonzept einzubinden. Das Entwicklungsprogramm beschränkte sich aber nicht nur darauf, Perspektiven und Möglichkeiten zu zeigen, es enthielt auch Unterlagen für das konkrete Vorgehen. Diee reichten von Beispielen für Planung und Kostenberechnung von Projekten, etwa für die Sanierung eines Bauernbetriebs, bis zur Liste der für eine Eingabe notwendigen Unterlagen.Das führte dazu, dass neben der Talvereinigung auch Private, Interessengemeinschaften oder einzelne Gemeinden motiviert werden konnten, Projekte anzugehen, und das Entwicklungsprogramm auf Anhieb vielversprechend begann. Carlo Rizzi, der heute im Halbamt das Sekretariat der RVM leitet, wo die einzelnen Eingaben seither evaluiert und koordiniert werden bevor sie dem Kanton vorgelegt werden, ist vom Prinzip der kleinen, aber vielen Schritte überzeugt. Als eine der wichtigsten Stationen in der mosaikartig verlaufenden Entwicklungsprogramme bezeichnet er die Gründung der „Azienda forestale regionale“. In diesem autonomen Forstbetrieb, der mittlerweile selbsttragend ist, finden heute 15 Talbewohner Arbeit. In seinen Aufgabenbereich gehört die Nutzung und Pflege des lange Zeit vernachlssigten Waldbestandes, zu dem auch 130 Hektaren Kastanienselven gehören. Auch der Ausbau des rund 100km langen Wanderwegnetzes, der demnächst abgeschlossen werden kann, waren die eigenen Forstarbeiter massgebend beteiligt. Damit wurden gleichzeitig auch gut Vorraussetzungen für die Förderung des Wandertourismus in der Region geschaffen. Mit der Eröffnung einer Jugendherberge in Scudellate, dem höchstgelegenen Weiler des Tals (904 m.ü.M), konnte auch dsa Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten verbessert werden.

Als einen weiteren Pluspunkt nennt Rizzi die mittlerweilen stark verbesserte zusammenarbeit zwischen den Gemeinden. Sanierungsmassnahmen würden so koordiniert und mit verienten Kräften durchgeführt oder Angestellte für den Unterhalt der Gemeinde-Infrastruktur gemeinsam finanziert. Sanierungs- und Unterhaltsarbeiten von Kanalisation und Strassen machten denn bisher auch den Grossteil der bisher realisierten Projekte aus. Daneben umfasst die Bandbreite der unterstützten Vorhaben aber auch den bau eines Sportplatzes in Castel San Pietro, die Wiederherstellung des ursprünglichen Kopfsteinpflasters im Ortskern von Campora, einer …tion von Caneggio, oder die Instandstellung der wertvollen alten Bibliothek in Sagno. Grossen Anklang fanden auch die Kurse für den Abbau und die sachgerechte Verwendung der Kieselkalkplatten für die charakteristischen Steindächer. Verschiedene Institutionen, aber auch die Schulklassen, welche in einem interkommunalen Zentrum zusammengefasst werden, begannen sie zudem mit beachtlichem Erfolg für die Wiederbelebung des ursprünglichen Brauchtums zu engagieren. Alles in allem erfuhr das soziale Leben im Muggiotal durch solche direkt oder auch indirekt aus dem Entwicklungskonzept der RVM hervorgegangenen Aktivitäten einen respektablen Aufschwung. Die Abwanderung konnte nicht nur gestoppt werden, in jüngster Zeit haben sich da und dort im Tal auch wieder junge Familien angesiedelt.

Sorgenkind Landwirtschaft

Schwierig ist die Situation für die Bauern geblieben. Die alteingesessenen, meist schon älteren Landwirte scheune sich vor Modernisierung und für junge Interessenten, ob sie nun aus der Deutschschweiz oder dem Tessin stammen, ist es kaum möglich, Höfe zu finden, welche eine Existenz garantieren. Insgesamt gibt es in der Region Muggio heute dennoch 34 Landwirtschaftsbetriebe, die hauptberuflich geführt werden. Einzelne Höfe sind allerdings stark abgelegen, und es braucht eine gehörige Portion idealismus, um hier überhaupt ttig zu werden. Eine wichtige Einnahmequelle für die Bauern ist die Käseprduktion. Insbesondere dr die aus Ziegenmilch hergestellten, als Spezialitt der Region bekannten Weichksesorten „formaggini“ und „robiole“ gibt es eine recht grosse Nachfrage. Im Auftrag der RVM ist nun eine Bestandesaufnahme der Landwirtschaft und des Alpwesens durchgeführt worden. Auf der Basis dieser kürzlich abgeschlossenen Arbeit sollen Modelle ausgearbeitet werden, um die Agrarwirtschaft im Tal mit gezielten Massnahmen zu stützen.

Sorgen machen dem sekretär der Talvereinigung aber auch die nach wie vor mangelhaften Versorgungseinrichtungen für die Bevölkerung in den einzelnen Dörfern. Zwar konnte in Caneggio der Lebensmittelladen mittlerweile nicht zuletzt auch dank einer Finanzhilfe über ds Förderprogramm erneuert werden, in den brigen Gemeinden ist die Zukunft der Dorfläden, auf die vor allem die älteren Einwohner angewiesen sind, allerdings ungewiss. In Muggio beispielsweise wurde der bisher von einem Grossverteiler betriebene Laden geschlossen. Dank der Hilfe von Privaten, die selbst gleich auch den Einkauf besorgen, bleibt er vorerst zumindest teilzeitlich noch in Betrieb.

Ein volkskundliches Freilichtmuseum

Ein besonders erwähnenswertes Projekt, welches aus dem förderungsprogramm der RVM hervorging, war die Schaffung eines volkskundlichen Regionalmuseums. Allerdings richteten die Initianten zu diesem Zweck nicht einfach einen zentralen Ausstellungsraum ein, in dem dann nach mehr oder weniger klaren Kriterien gesammelte Gegenstände gezeigt werden. Die Tatsache, dass überall im tal verstreut eine Vielzahl von charakteristischen volkskundlichen Kulturgüter sowie Zeugnisse der reichen einheimischen Kunsthandwerkstradition zu finden sind, liess dafür die Idee aufkommen, ein sogenanntes Freilichtmuseum einzurichten. Die Sehenswürdigkeiten können in einem solchen das ganze Tal umfassenden reilichtmuseum gleich an Ort und Stelle besichtigt werden, entweder auf eigene Faust oder in geführten Exkursionen.