© NZZ vom 28.3.1996

Das „Museo nel territorio“ der Valle di Muggio

Die Valle di Muggio gilt als Sonderfall: das südlichste Tal der Schweiz, das die Breggia auf einer Länge von rund zehn Kilometern in die stotzige Landschaft zwischen Monte Generoso, Monte Bisbino und Sasso Gordona eingefressen hat, ist mit annähernd 3700 Hektaren Fläche nicht nur die kleinste Einheit der als Bergregionen eingestuften Gebiete des Tessins – ein Mikrokosmos, dessen soziokulturelles Erscheinungsbild mediterrane und alpine Elemente in fliessendem Übergang prägen. Auf engstem Raum eröffnet diese grüne Oase der Stille, die auch durch ein massgeblich auf Hilfe durch Selbsthilfe abstellendes Förderungskonzept Aufsehen erregte, nicht zuletzt ein botanisches, zoologisches Dorado (etwa die von Breggia und Crotta gebildeten Schluchten oder die Höhle Böcc de la Togna)

Kein zweiter Ballenberg

Im Status nascendi ist heute eine weitere Besonderheit: ein Talmuseum ganz eigenen Zuschnitts. Für einmal steht nicht die Einrichtung eines zentralen Ausstellungsraums im Vordergrund, wo mehr oder weniger sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzte Exponate den einstigen Alltag dokumentieren. Dafür bestand kein Bedarf, verfügt doch das Mendrisiotto seit 1981 im Museo della civiltà contadina in Stabio über eine reich dotierte Sammlung, die, ergänzt durch wechselnde Spezialausstellungen, mannigfache Einblicke in die Geschichte und Traditionen der südlichen Grenzlande erlaubt.

Die 1980 gegründete Assoziazione Museo etnografico della Valle di Muggio (MEVM), ein Kind gleichsam der die neun Gemeinden zusammenschliessenden, für die Revitalisierung verantwortlichen Interessengemeinschaft Regione Valle di Muggio, wählte einen anderen Ansatz. Mit Blick auf den Umstand, dass das kulturelle Erbe, zu dessen Schutz und Erhaltung die Initianten antraten, namentlich die bäuerliche Architektur und deren Funktion, zu einem guten Teil durch die topografischen Gegebenheiten bestimmt war, hat die Vereinigung von Anfang an die Landschaft und die von ihr diktierten (schwierigen) Bedingungen ins Konzept einbezogen. Ein Freilichmuseum ist also im Entstehen, aber kein zweiter Ballenberg, der ja gerade diese entscheidenden Determinanten ausser acht lässt. Unmittelbares Ziel ist in erster Linie die Fertigstellung des heute bereits in Etappen realisierten percorso museale, eines mit eigens entworfenen Piktogrammen signalisierenden Rundgangs, der den besucher mit ausgesuchten autochthonen, für das wirtschaftliche (Über-)leben zum Teil entscheidenden Objekten bekannt macht. Den diesem Konzept immanenten didaktischen Anspruch illustriert zum beispiel der voraussichtlich ab dem kommenden Frühsommer zum Anschauungsunterricht eingeladene Komplex des erstmals um 1700 urkundlich erwähnten, bis 1965 genutzten Mulino di Bruzella. Nicht nur hat die Musuemsvereinigung mit einem Investitionsaufwand von insgesamt 1 Million Franken die Gebäulichkeiten und deren Annexeinrichtungen (Wie Wasserzuleitungen usw.) mustergültig renoviert. Die Mühle präsentiert sich jetzt funktionstüchtig und soll gemäss heute noch nicht vorliegendem „Fahrplan“ den Besuchern die Arbeitsabläufe im Massstab 1:1 vor Augen führen. Allgemeine Informationen über die Müllerei und deren Stellenwert in der Valle di Muggio – von den Zwölf vor hundert Jahren noch in Gebrauch stehenden Mahlwerken existieren noch zwei – hält eine kleine Ausstellung mit populärwissenschaftlichem Gestus in einem Nebengebäude bereit, das als Korn- und Holzlager diente. Man erfährt dort wissenwertes sowohl über technische Belange wie über die wirtschaftliche Bedeutung dieser ausgesprochenen Gebrauchsmühlen, welche vielfach das Gros der Aufträge von Bäckereinen im raume Como erhielten.

Aber auch für eine streng wissenschaftliche Vertiefung ist gesorgt. In Zusammenarbeit mit dem Geographischen Institut der Universität Zürich Irchel organisiert das MEVM seit 1992 kulturlandschaftliche Seminare, dessen nächste Auflage für den kommenden Juni geplant ist. Publiziert werden die Forschungsergebnisse im Rahmen der von den Geographiedozenten Silvia Ghirlanda und Paolo Crivelli betreuten MEVM-„Quaderni“. Zur Koordinations- und Informationsstelle ausgebaut werden soll ein kürzlich erworbenes Patrizierhaus im Kern von Cabbio.

Nevère…

Der Mulino di Bruzella markiert indes nur den Anfang. Weitere Vorzeigestücke will man nach Massgabe der (beschränkten) finanziellen Mittel mit der Zeit erwerben und instand stellen bzw. dem Publikum zugänglich machen. Nebst dem eher unspektakulären, dem Dörren der castagne im Rauch dienenden Graa, den bolle (als Wasserreservoire angelegte künstliche Hangmulden im Alpgebiet), nicht zuletzt den Kohlemeilern und den Brücken des alten, teilweise in der Enge schattiger Schluchten der Breggia entlang führenden Talweges stehen zum einen die Nevère (von neve, Schnee) ganz oben auf der Inventarliste. Rund siebzig zählt man, als typische Einrichtungen der Alpwirtschaft, alle auf Höhen über 1000 m.ü.M. Anzutreffen sind diese bis zur Mitte unseres Jahrhunderts zur Kühlung von Milch, Butter und Käse genutzten Schneekeller hierzulande ausschliesslich in der Valle die Muggio sowie im Puschlav, beides Regionen, wo der karstige Untergrund permanenten Wassermangel verursacht. Die zum Schutz vor der Sonne von Laubbäumen umstandenen Rundbauten, oft abgeschlossen durch ein falsches Gewölbe, sind in der Regel zu zwei Dritteln unter Boden angelegt. Eine Wendeltreppe, der entlang Nischen zur Einlagerung von Lebensmitteln ausgespart sind, führt hinab zur Sohle. Bis zu 60 Kubikmeter festgestampften Schnees konnte eine Nevèra aufnehmen, der bis in den Oktober für eine konstante Temperatur von knapp 10 Grad sorgte.

… die Kastanienkultivierung…

Das gleiche besucherfreundliche Präsentationsprinzip kommt hinsichtlich der aus der Valle di Muggio nicht wegzudenkenden Kastanie zum Tragen. Deren vielfältig verarbeitbaren Früchte stellten bis annähernd Mitte unseres Jahrhunderts ein Volksnahrungsmittel par exellence dar; jährlich verzehrte eine Sechsköpfige Familie bis zu einer Tonne. Der Kastanienkrebs, der zunehmende Verzicht auf das gerbstoffreiche Holz als Brennmaterial sowie die Konkurrenz aus Italien, die Grössere und leichter zu schälende Marroni anbietet, haben indes zur weitgehenden vernachlässigung der Kultivierung geführt. An sie erinnert das MEVM ab nächstem Herbst in Rahmen einer Spezialausstellung, die ins Verwaltungszentrum der Azienda forestale regionale bei Lattecaldo (an der Strasse nach Sagno) integriert, damit in unmittelbarer Nachbarschaft einer Selva (relativ pflegeintensiver Kastanienhain) situiert ist.

… und die Roccoli

Zum anderen gilt das Interesse des MEVM den beiden Roccoli, Einrichtungen zum Fangen von Zugvögeln, di nach Inkrafttreten des Eidgenössischen Jagdgesetzes 1865, das die hiesigen Papagenos brotlos machte, zusehends aus dem Landschaftsbild des Sottoceneri verschwanden. Auf ein Ubebleibsel dieser gemäss Quellen dreihundert Jahre alten Tradition stösst man am Hang bei Scudellate. Auch dieses Zeugnis eines heute verdamten Handwerks soll sich dem Besucher in originaler Anlage präsentieren. Vor dem charakteristischen Turmbau pflanzte man in Hufeisenform zwei Reihen von Bäumen, wobei das äusserste Geäst der Fixierung der aus Seide oder Baumwolle geknüpften Fangnetze diente. Hatte sich nun, verführt vom Ruf der Lockvögel oder von Pfeiftönen des ucellatore, ein Schwarm auf den Maulbeerbäumen oder Eschen niedergelassen, löste der Fänger mittels einer von der obersten Plattform des in der Regel dreistöckigen Turms in die Luft geschleuderten Greifvogel-Imitation Panik aus und trieb so die seitwärts fliehende Beute ins Netz. Bis vierhundert Tiere zählte man dem Vernehmen nach pro Fang – und das bis fünfzehnmal am Tag.

Auch Anreiz für den Tourismus

…die Idee des museo nel territorio, deren Umsetzung die Azienda forestale durch intensive Arbeit am weitläufigsten, die Siedlungsstufe wie die monti und alpi erschliessenden Wanderwegnetz begleitet, entspricht voll und ganz den Vorstellungen eines sanften, kulturelle Identität respektierenden Tourismus.

Dass allerdings die infrastrukturellen Voraussetzungen für den fremdenverkehr noch deutlich zu wünschen übriglassen, bestreiten die Verantwortlichen nicht. So gestaltet sich die Umschau nach einer Unterkunft nach wie vor schwierig, ja selbst die Suche nach Verpflegungsmöglichkeiten kann zum Problem werden. Kenner der Verhältnisse registrieren aber vorab bei der jüngeren Bevölkerung einen Mentalitätswandel und räumen der Parahotellerie oder Sonderformen wie dem Agrotourismus steigende Chancen ein. Man soll daher die Hoffnung nicht aufgeben, dass dereinst die formaggini, die auch bei uns die Wertschätzung der Käseliebhaber geniessen, ebenfalls wieder in der Valle di Muggio selbst angeboten werden. So sie bis dann nicht samt allen Staphylokokken überhaupt verschwunden sind, geopfert den rigorosen (kantonalen) hygienevorschriften, die kleinere Produzenten vor grosse Probleme stellen.

Balts Livio

Wir danken Prof Silvia Ghirlanda vom Liceo cantonale Mendrisio für ihre sachdienliche Mithilfe

Informationen
Museo etnographico della Valle di Muggio (MEVM): Auskünfte sind erhältlich bei: Prof. Silvia ghirlanda, 6866 Meride, Tel. (091) 646 64 82, und prof. Paolo Crivelli, 6850 Mendrisio, Tel (091) 646 98 60.


Museo della ciciltà contadina del Mendrisiotto: Das Museum liegt im Dorfkern von Stabio und ist jeweils am Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag von 14 bis 17 Uhr geöffnet.


Touristische Informationen: Ebenfalls Auskünfte über beide Einrichtungen sowie allgemeine touristische Informationen erteilt der Ente Turistico del Mendrisiotto e Basso Cerosio, 6850 Mendrisio. Tel. (091) 646 57 61, Fax (091) 646 33 48.