© Tages-Anzeiger, 29.6.2000

Das Valle di Muggio, das südlichste Tal im Tessin, hat die Vorzüge des sanften Tourismus entdeckt.

Wir stossen die niedrige Holztür auf, steigen die 14 schmalen Stufen hinunter, die dem Rundbau entlang in die Tiefe führen. Das Licht der Junisonne filtert durch die Maueröffnung. Durch diese Öffnung haben die Bauern früher den gestampften Schnee in die Nevera, den Milchkeller, geschaufelt. Es wird still, kühl, dämmrig.

Knapp sechs Meter über uns wölbt sich, das Dach aus Kalksteinplatten, die in immer enger werdenden Kreisen angeordnet sind und eine flache Kuppel bilden. Sie liegen auf der massiven Trockenmauer auf, in der jeder Stein, jedes Steinchen seinen Platz hat. Die Nevera ist vielleicht 150, vielleicht 200 Jahre alt und viel sorgfältiger gebaut, als man es von einem Milchkeller je erwarten würde.

In Gertrud Leuteneggers Erzählung «Die Meduse» (1988) wird die Nevera zum runden Grab aus Steinen, in dem die jugendliche Erzählerin eine Nacht mit ihrem Freund verbringt, bevor sie aufbricht aus dem Tal. Hinter sich lässt sie ihre Kindheit im imaginären Dorf Rovina, das langsam zerfällt. «Die Meduse» spiegelt die Stimmung im Valle di Muggio Ende der Siebzigerjahre: Die landwirtschaftlichen Betriebe und die Alpwirtschaft rentierten kaum mehr, die Jungen wanderten ab.

Geschichte in der Landschaft

Seither ist der Optimismus zurückgekehrt, wie uns auf der Suche nach Rovina klar wird. Anlass zur Wanderung ist das neue Buch «Das Klappern der Zoccoli». Es nimmt Literatur zum Ausgangspunkt, um auf 35 Touren aktuelle Themen und Landschaften des Tessins zu entdecken.

Wir haben das Kapitel über das Valle di Muggio fotokopiert, um den 500-Seiten-Wälzer nicht mittragen zu müssen, und sind mit der Bahn auf den Monte Generoso gefahren. Das Eternitschindeln-Restaurant der Bergstation haben wir links liegen lassen, uns stattdessen vor dem Haus hingesetzt, das mit «latte fresco, frische Milch» angeschrieben ist. Hier servieren Marisa und Adriano Clericetti Formaggini, die hohen von säuerlichem Geschmack, die niederen neutral und den mit Knoblauch und Pfeffer versetzten reifen «Zincarlin».

Von hier schweift der Blick über die Alpweiden an der Südflanke des Monte Generoso hinunter ins waldige Valle di Muggio, das südlichste Tal in den Tessiner Voralpen. Gegenüber die Hügel zwischen Sasso Gordona und Monte Bisbino, dahinter versteckt liegt der Comersee. Die Po-Ebene verliert sich in gelblichem Dunst. Wir steigen über die steilen Weiden ab, vorbei an wilden Pfingstrosen und würzig duftenden Heuhaufen. Und dann die erste Nevera auf der Alpe Genor.

Das Ethnografische Museum des Valle di Muggio (MEVM) hat im Tal 70 mehr oder weniger gut erhaltene Nevere erfasst. Sie dienten als Kühlkeller, in denen die frische Milch bis zur Weiterverarbeitung zu Butter und Magerkäse aufbewahrt wurde. Im Winter füllten die Bauern die Nevere mit Schnee, der während des Sommers langsam schmolz. Das MEVM hats ausprobiert: Eine Nevera wurde 4.25 Meter tief mit Schnee gefüllt. Ende Juli lag der Schnee noch 1,4 Meter tief, und die Temperatur im Keller blieb konstant bei 3 Grad. Selbst im Oktober war der Schnee aus dem Vorjahr noch nicht ganz geschmolzen. Die Nevere sind Zeugen einer Kultur, die sich der Umgebung optimal anpasste. Denn kühlende Quellen gibt es am Monte Generoso nicht.

Auf der Alpe Nadigh, unweit der Alpe Genor, sammeln die Bauern deshalb bis heute das Regenwasser auf den Dächern und leiten es in eine Zisterne. Früher verbrachten hier etwa 20 Menschen den Sommer, heute sind es noch drei, und sie sind auch nicht mehr die Jüngsten. Einige der verwinkelten Häuser beginnen zu zerfallen. Aus den Türöffnungen lugen die Geissen.

Doch die Chancen stehen gut, dass die Alpe Nadigh am Leben erhalten wird. Das MEVM plant, finanziell unterstützt vom Fonds Landschaft Schweiz und anderen Geldgebern, eine Wasserleitung auf die Alp zu ziehen. Fernziel ist, die Alpe Nadigh so herzurichten, dass eine junge Bauernfamilie hier wirtschaften und Wanderer beherbergen kann.

Traditionen erhalten

Rund 100 Kilometer Wanderwege sind im Valle di Muggio in Stand gestellt und ausgeschildert. Sie führen zu den Spuren der traditionellen Bewirtschaftung des Tals: Nevere, Roccoli (Vogelfangtürme), Graa (Dörrhaus für Kastanien). Die dreistöckige Mühle in Bruzella ist praktisch jede Woche einige Stunden in Betrieb. Lieferte sie früher Maismehl für die Polenta bis nach Como, Monza und Mailand, nehmen ihr Wanderer und Ausflügler heute das Bioprodukt ab.

All das hat das ethnografische Museum dokumentiert, erhalten und wieder zugänglich gemacht &endash; nicht in einer Ausstellung, sondern draussen in der Landschaft. So fördert es einen sanften Tourismus, der das Tal belebt. Dieses hat inzwischen auch ein Qualitätslabel für seine Produkte lanciert &endash; zunächst einmal für die Formaggini. Dass es die Leute im Valle di Muggio gewohnt sind, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, zeigt auch ihre Reaktion auf die Schliessung der letzten Coop-Filialen: Sie haben eine eigene Genossenschaft gegründet. Vor Weihnachten ging die erste «Dispensa» auf, inzwischen sind es schon drei.

Rovina haben wir nicht gefunden. Stattdessen ein ruhiges, sonniges Tal, eingebettet zwischen Alpen und Lombardei. Nicht spektakulär, aber voller Geschichten. Und auf jeden Fall einen Ausflug wert.