© Tages-Anzeiger, 21.7.2004

Das Valle di Muggio (Tessin) ist das südlichste Tal der Schweiz. Es ist ein flächendeckendes Volkskunde-Freilichtmuseum.

Die beiden älteren Damen mit den gelben Regenmänteln sind aus einem ganz bestimmten Grund in die Mühle von Bruzella gekommen. Nicht weil sie sich für Tessiner Volkskunde interessieren. Sondern um ihren Mais wie vor hundert Jahren mahlen zu lassen. Das Mahlwerk besteht aus Steinen, und angetrieben wird es durch ein Wasserrad mit einem Durchmesser von schätzungsweise drei Metern. Pro Kilo Mais wird der Müller mit 50 Rappen entlöhnt – dafür kriegt man sozusagen historisches Polentamehl.

Die Wasser der Breggia haben früher viele Wasserräder im Valle di Muggiogespeist, Wasserräder von Kornmühlen, Kastanienmühlen, Sägereien, Ölpressen, Papiermühlen. Die Mühle von Bruzella hat sich am besten erhalten, wurde in Stand gestellt und 1996 wieder in Betrieb genommen, wenn auch nur für zwei Tage in der Woche.

Die Mulino de Bruzella ist eines der Kernstücke des Museo etnografico della Valle di Muggio. Und das ist eine Art volkskundliches Freilichtmuseum, das sich über das sieben Kilometer lange Tal erstreckt. «Museum im Territorium» heissts etwas holprig in der deutschsprachigen Broschüre.

Mit einem Grotto fängt es an

Dass das Valle di Muggio ein Eigenleben führt, zeigt sich bei der Anreise. In Morbio Superiore, dem Eingang zum Tal, wachsen Baugerüste aus den Rebbergen. Reihenhäuschen sind überall ausgesteckt, der Blick geht über das arg verbaute Mendrisiotto. Vor dem ersten Dorf im eigentlichen Muggiotal aber begrüsst uns schon ein Grotto der alten Art. Im Grotto Vanini, kurz vor Caneggio, speist man an Granittischen unter Bäumen. Einheimische trinken den Merlot nostrano aus dem Boccalino, die Bocciabahn fehlt ebenso wenig wie Bresaola auf der Menükarte.

Die Fahrt geht durch das waldige Tal, das die Breggia geformt hat. An den Steilhängen kleben die Dörfer, ockerfarbene Häuserpuzzles inmitten der tiefgrünen Kastanienwälder. In Cabbio verlasse ich die Umfahrungsstrasse und folge dem Wegweiser «Centro». Doch die Strasse wird zum Strässchen, zur Gasse. Das alte Gemäuer links und rechts nähert sichbedrohlich den Seitenspiegeln, ein Kleinlieferwagen kommt mir entgegen, derBäcker. Da kehre ich um beziehungsweise lege den Retourgang ein und fahre«süferli» rückwärts.

Ein Waschbrunnen mit Star-Auftritt

Cabbio lässt sich eben nur zu Fuss erkunden. Im oberen Dorfteil stosse ich auf einen alten quadratischen Waschbrunnen, wo die Dorfbewohnerinnen früher die Wäsche wuschen (fliessendes Wasser gabs in den Häusern nicht). Mit seinen Säulen und der halb runden offenen Halle gleicht die Anlage einem Heilbad. Links und rechts des Waschtrogs sind zwei weitere Brunnen angeordnet. Zwei Frauen schwatzen, ihre Kinder quengeln, ein Hund bellt. «Der Brunnen links lieferte Trinkwasser für die Dorfbewohner», erklärt mir eine der Frauen. «Der Brunnen rechts war fürs Vieh.» Das blaue Hinweisschild, das das Museo angebracht hat, nennt das Ganze lapidar «Fontana».

Etwas weiter gerate ich an ein turmartiges Gebäude aus groben Steinen. «Graa» steht auf dem blauen Schild. Im Innern sind horizontale Flechtwerke angeordnet, mehrere übereinander. Da wurden früher Kastanien für den Wintervorrat getrocknet, drei Oktoberwochen lang branntejeweils im untersten Geschoss ein Feuer.

Kühlschränke aus uralten Zeiten

Mulino, Fontana, Graa – das Muggiotal hat eine ganze Reihe von Gebäuden und Einrichtungen aus dem Tessin des 19. Jahrhunderts erneuert, inventarisiert und zu einem volkskundlichen Kulturweg zusammengestellt. Wer gut zu Fuss ist, stösst auf den Hügeln etwa auf eine Sostra, einen offenen Freistall aus Granit, der während der Alpsaison dem Vieh Unterstand bot.

Ebenfalls für das Vieh sind die Bolle, künstlich angelegte Weiher, die als Tränke dienten. Die Nevère sind die runden, kegelförmigen Kühlschränke vergangener Zeiten. Im Winter wurden sie mit Schnee gefüllt. Der hielt sich bis in den Sommer hinein, da zwei Drittel des Nevèra unter dem Boden liegen. Milch, Rahm und Käse wurden darin gelagert. Auch alte Steinbrücken, Köhlereien, Zisternen und Vogelfangtürme sind im Muggiotal zu besichtigen – ein Tessin der Traditionen, die anderswo längst verschüttet, zerfallen oder zugebaut sind.