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Vom Tessiner Muggiotal führt ein bequemer Wanderweg zu den Höhen über dem Comersee.
Alle drängen an diesem Wochenende an die italienische Sonne: Vollbepackte Autos stottern im Schritttempo der Grenze entgegen, und in den Zügen belegen Regenmüde und Ferienhungrige die letzten Sitzplätze. Doch wer wie wir den Weg nach Italien unter die Füsse nimmt, kann der Masse spätestens in Chiasso adieu sagen.
Das Postauto nach Muggio müssen wir noch mit zwei Passagieren teilen, aber im Kleinbus nach Scudellate sind wir endgültig die einzigen Gäste. «Per l‘ Italia? Nach Italien? Avete i documenti?» fragt uns der Chauffeur, wie er die letzten Haarnadelkurven in das Bergdörfchen hinaufsteuert. Die Ausweise seien nötig, meint er, viele Kontrollen gebe es neuerdings an der grünen Grenze zu Italien.
Im 45-Seelen-Dorf Scudellate, der hintersten Ortschaft im Tessiner Muggiotal, scheinen nicht viele Fremde offiziell Station zu machen. Die einladende Jugendherberge ist an diesem Tag in der Hochsaison unbenutzt. Eigentlich unverständlich: Liegt einem doch hier das Muggiotal in den sattesten Grüntönen zu Füssen. Bauern, Holzfäller und Schmuggler bewohnten einst dieses Bergtal, das bis heute viel von seiner Ursprünglichkeit erhalten hat.
Wir verlassen Scudellate Richtung Osten auf einem steinebesetzten Saumpfad. Nach der Kapelle San Antonio beginnt ein kurzer steiler Abstieg zum Grenzfluss Breggia. Ein Schild mahnt uns, dass wir nun die Schweiz verlassen. 20 Minuten nach dem Start unserer Wanderung überqueren wir den Steg über das trockene Bachbett und damit die Grenze zu Italien mit ruhigem Gewissen: die Dörrfrüchte und der Eistee in unseren Rucksäcken werden wohl zollfrei sein.
Auf der anderen Talseite führt der Weg über eine Wiese hoch zur ersten Ortschaft auf italienischem Boden. Von den angekündigten Kontrollen keine Spur. In Erbonne registriert nur ein struppiger Hund unsere Ankunft mit einem müden Bellen, ohne dafür jedoch den kühlen Schatten zu verlassen.
Die wenigen Wanderer, die das Dorf besuchen, sind meist unterwegs zum Aussichtsberg Monte Generoso. Wir aber wählen die entgegengesetzte Richtung und wandern ostwärts. Dem Ausblick nach wähnt man sich schon weiter südlich: Eine einsame Reihe Bäume ziert die Krete des gegenüberliegenden Bergkamms geradeso, als würde gleich dahinter die Toskana beginnen.
Altertümlicher Kühlschrank
Der sanfte Aufstieg zur Alp Ermogna bringt einen auch an heissen Tagen nicht ins Schwitzen: Der Weg liegt grösstenteils im Schatten und führt erst kurz vor der Alp aus dem lichten Laubwald. Der Hirte, der sein Vieh schon seit Jahrzehnten hier auf die Weide führt, nutzt dies und stopft seinen riesigen Rückentragkorb mit dürren Blättern voll, um seinen Tieren ein weiches Lager zu bereiten.
Zu seinem Hof, der wenige hundert Meter abseits des Wanderwegs liegt, gehört auch eine «Nevere». In diesen runden Steinbauten, die sich zu zwei Dritteln unter der Erdoberfläche befinden, wurden früher Milchprodukte mit gepresstem Schnee bis in die warmen Monate hinein gekühlt. Rund um den Monte Generoso sind diese Schneehütten, Zeugen der landwirtschaftlichen Vergangenheit der Region, auf Schweizer und auf italienischer Seite immer wieder anzutreffen.
Von Ermogna, mit 1115 Meter der höchste Punkt unserer Route, ist der Blick zum erstenmal frei auf den Comersee, der 800 Meter unter uns liegt. Fast schade, dass der Weg nach einer halben Stunde wieder im Wald verschwindet und den spektakulären Tiefblick nur noch an einzelnen Stellen erlaubt. Wer weiter an der Sonne wandern möchte und den weiteren Weg nicht scheut, kann von Carolza über die Capanna Giuseppe e Bruno zur Alpe d’Orimento und dann nach San Fedele weitergehen.
Wir aber steigen nach Casasco ab. Hier hat uns die Zivilisation – etwas früher, als uns lieb ist – wieder. Nach zwei missglückten Versuchen geben wir es auf, die auf der Karte eingezeichneten Naturpfade zwischen den Dörfern zu finden: In den letzten Jahren sind einige als Zufahrtsstrassen zu den Einfamilienhäusern ausserhalb der alten Dorfkerne asphaltiert worden. Egal: Die grünen Hügel des Valle d’Intelvi und der nahe Comersee bleiben auch von der schwach befahrenen Landstrasse aus reizvoll.
Italienische Lebensfreude
Beim Warten auf den Bus in der Bar von Castiglione kommen wir in den Genuss der sonntäglichen Italianità: Gelati, Capucchino und die Sportübertragungen am Fernsehen. Doch dies ist nur ein Vorspiel dessen, was die Ferienstimmung am Ufer des Comersees an Lebendigkeit bietet. Wer sie nicht nur durch die Busscheibe erleben will, kann seinen Aufenthalt auf mehrere Tage ausdehnen. Die Ortschaften rund um den See warten mit einer Fülle von Aufenthalts- und Ausflugsmöglichkeiten auf, und die Stadt Como ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert.
Nützliche Infos
Art der Wanderung: über weite Strecken leichte Wanderung, wenige mittelschwere Abschnitte, letzte Stunde auf Asphalt.
Route: Scudellate-Erbonne-Reusello-Ermogna-Casasco d’Intelvi-Veglio-Castiglione d’Intelvi, 300 Meter Steigung, 600 Meter Gefälle, Wanderzeit rund vier Stunden.
Anfahrt:Postauto ab Chiasso nach Muggio (Fahrplan 639.11), in Muggio umsteigen nach Scudellate (639.15, nur wenige Verbindungen täglich).
Rückfahrt: Von Castiglione d’Intelvi mit dem Bus über Argegno nach Como (teilweise umsteigen in Argegno). In den Sommermonaten ab Argegno Schiffsverbindungen nach Como.
Karten: Monte Generoso, 1:25000, enthält auf der Rückseite Informationen und Wandervorschläge, (bestellen unter 091- 648 11 05) oder Landeskarten der Schweiz: Blatt 1353 Lugano (1:25000) und Blatt 287 Menaggio (1:50000).
Bücher:Monte Generoso, 26 Wanderrouten zur Entdeckung des Berges (bestellen unter 091- 648 11 05) und 40 Grenzabenteuer, Werd-Verlag, 1996, beschreibt Wanderungen ins nahe Ausland.
Variante: Von Ermogna, Carolza über Capanna Giuseppe e Bruno, Alpe d’Orimento nach San Fedele (hier Bus nach Argegno, Como).
Verpflegung:Scudellate, Casasco, Castiglione, Campanna Giuseppe e Bruno, Alpe d’Orimento.
Übernachtungsmöglichkeiten: Jugendherberge oder Osteria Manciana in Scudellate. Information und Reservationen unter: 091- 684 11 36.